Die numerische Biomechanik ist sehr komplex. Sie beinhaltet viele Aspekte der Modellierung und Idealisierung, um zu einem vertrauenswürdigen prognosefähigen Simulationsmodell zu kommen, damit biomechanische Fragestellungen analysiert werden können. Im Folgenden werden dazu verschiedene Methoden und ihre Anwendungen vorgestellt.
Die biomechanische Mehrkörperanalyse für körpergetragene Systeme ist ein am Fraunhofer IPA entwickelter modellgestützter Workflow zur personalisierten Auslegung und Evaluation von körpergetragenen Systemen. Der Analyseworkflow erstreckt sich von der biomechanischen Laboruntersuchung mit der Erfassung von Bewegungs- und Belastungsdaten über die biomechanische Beanspruchungsanalyse bis zur Mehrkörper-Exoskelett-Mensch-Analyse. Damit können Entwickler, Ergonomen und Orthopäden bei der Auslegung, Evaluierung und Anpassung von Exoskeletten, Orthesen, Prothesen bis hin zu Implantaten mit Hilfe eines nicht-invasiven digitalen Werkzeugs unterstützt werden. Die technischen Assistenzsysteme werden bisher von Ergonomie- oder medizinischen Experten mit Hilfe von Tabellen oder Erfahrungsberichten ausgelegt und beurteilt. Mit Hilfe dieses Untersuchungsansatzes sollen quantifizierbare biomechanische Personalisierungsparameter gefunden und eingeordnet werden.
Durch 3D-Simulationen von muskuloskelettalen Systemen werden räumliche Spannungs- und Dehnungsverteilungen in Hart- und Weichgewebe analysiert, die durch aktive Muskelarbeit und passive Muskelbelastung entstehen. Ein sehr bedeutender Aspekt dieser Modellierung ist die Bestimmung des vorgespannten Sehnen-Muskel-Systems und somit auch die Bestimmung der Gelenksteifigkeiten. Nur hierdurch sind realitätsnahe Bewegungs- und Kraftanalysen von muskuloskelettalen Systemen möglich und können bei der Planung von Muskel- und Sehnenplastik in der plastischen Chirurgie durch Voranalysen unterstützen.
Ein wichtiger Faktor für die Funktion der Orthesen sind die Gelenkkräfte und -momente, die einen großen Einfluss auf die Auslegung der Struktursteifigkeit der Orthese haben. Jeder Mensch hat ein unterschiedlich entwickeltes muskuloskelettales System und generiert für den gleichen Belastungsfall unterschiedliche Gelenksteifigkeiten. D.h. eine Orthese kann nur präzise funktionieren, wenn sie optimal auf die Biomechanik des Gelenks ausgelegt ist. Ebenfalls sind Analysen der Gewebebeanspruchung durch Orthesen im tieferen Gewebe von hoher Bedeutung. Durch die Veränderung des Muskelvolumens infolge von Muskelkontraktionen ändern sich ebenfalls die Kontaktfläche zwischen Orthese und Haut und somit auch der Anpressdruck. Beide Faktoren sind entscheidend für die Kraftübertragung von der Orthese über das Haut-Gewebe-System in das muskuloskelettale System.
Realistische Gelenksteifigkeiten sind nur mit detaillierten 3D-Muskelsystemsimulationen bestimmbar und zudem können durch last- und zeitabhängige Gewebeschädigungsmodelle kritische Belastungen identifiziert und die Orthesenstruktur daraufhin optimiert werden.
Bewegungen von Körpergliedmaßen erfolgen durch Kontraktionen von verschiedenen Muskeln. In welcher Kraftintensität die individuellen Muskeln mobilisiert werden, hängt stark von der geplanten Bewegungsaktion ab und wird neurophysiologisch orchestriert. Die Kontraktion der Muskeln wird durch elektrische Impulse getriggert, die dann elektro-chemo-mechanische Prozesse in Gang setzen und den Muskel zusammenziehen lassen. Die phänomenologische Beschreibung dieser multiphysikalischen Prozesse auf der Mikroebene und deren Homogenisierung auf eine makroskopische Ebene wird intensiv von Prof. Oliver Röhrle an der Universität Stuttgart (IMSB) erforscht. In enger Kooperation mit dem Fraunhofer IPA im Bereich der Biomechanik werden diese erforschten Grundlagen der Muskelmodellierung in weiterentwickelten makroskopischen Muskelmodellen in kommerzielle Finite-Elemente Software umgesetzt, z.B. in LS-Dyna (LSTC) implementiert. Das aktuelle implementierte Hill-Typ 3D-Muskelmodell hat einen isotropen hyperelastischen Teil, der das Fett- und Matrixgewebe der Muskelfaser repräsentiert, und einen anisotropen Anteil, der die passive und die aktive mobilisierte Muskelfaserkraft wiedergibt. Das mechanische Verhalten der Muskelfaser ist hochgradig nichtlinear und wird über ein nichtlineares mathematisches Materialmodel beschrieben. Mit diesem Modell können nach Wahl der Materialparameter sowohl Fett- und Muskelgewebe also auch Sehnen und Bänder beschrieben werden.