Die Revolution darf nicht ohne die kleinen und mittleren Unternehmen stattfinden
Weckruf der Produktionswissenschaftler:
Der WGP-Standpunkt Industrie 4.0 ist am Donnerstag auf dem Kongress Produktionsforschung 2016 in Berlin an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) übergeben worden.
Die digitale Vernetzung der Wertschöpfung in Echtzeit ist zwar unter dem Begriff Industrie 4.0 in aller Munde, aber nur etwa ein Zehntel der deutschen Unternehmen beschäftigt sich intensiv operativ damit. Das bedeutet aber immer noch nicht, dass sie grundsätzlich auf dem richtigen Weg sind. Der Leiter des Fraunhofer IPA, Thomas Bauernhansl, Mitglied der wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik (WGP), hat daher eine Forscherinitiative gestartet, welche die Potenziale, Risiken und den Forschungsbedarf von Industrie 4.0 analysiert und darauf aufbauende Handlungsempfehlungen für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft entwickelt hat. Resultat ist der »WGP-Standpunkt Industrie 4.0«, der am Donnerstag, den 23. Juni auf dem Kongress Produktionsforschung 2016 von Wissenschaftlern der WGP an das BMBF übergeben wurde.
Der WGP-Standpunkt soll ein Weckruf für die Unternehmen sein, die sich noch nicht ausreichend mit Industrie 4.0 beschäftigen, weil sie die Dringlichkeit noch nicht spüren und die Potenziale nicht erkannt haben. Produktionstechnikern in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) soll klar vermittelt werden, was den Kern von Industrie 4.0 ausmacht. »Wer glaubt, er sei mit einer mit dem Internet verbundenen Maschine bereits in der Zukunft angekommen, täuscht sich. Industrie 4.0 ist keineswegs nur ein kurzer Hype oder ausschließlich ein Thema für finanzstarke Konzerne. Die Vernetzung der Wertschöpfung ist für alle Produktionstechniker eine Revolution, die sie nicht verpassen dürfen«, so IPA-Chef Thomas Bauernhansl.
Kleine und mittlere deutsche Unternehmen aus dem Produktionsbereich sind gegenüber Industrie 4.0 noch zu zurückhaltend. Teilweise werden Chancen unterschätzt. Die Risiken hingegen werden eher überschätzt. Kosten, Fachkräftemangel, Datensicherheit sind häufig genannte Gründe für das Zögern vieler KMU.
- In Industrie 4.0 einzusteigen, kostet jedoch oft weniger als gedacht; bezahlt wird meist nur, was tatsächlich auch genutzt wird (zum Beispiel Services oder Rechenzeit). Hohe Lizenzgebühren und teure Hardware können häufig entfallen. Auch der Kauf eines komplett neuen Maschinenparks ist nicht nötig, da in der Regel Stück für Stück relativ kostengünstige Technologien nachgerüstet werden können.
- Einen Fachkräftemangel im IT Bereich gibt es heute noch nicht (auch wenn er bereits absehbar ist). Informatiker kosten allerdings Geld und das steht häufig aufgrund mangelnder oder fehlerhafter strategischer Fokussierung nicht zur Verfügung. Hier müssen jetzt die Weichen gestellt werden.
- IT-Sicherheit muss für KMU bereits heute ein zentrales Thema sein. Allerdings wird es nicht ausreichend adressiert. Die Vernetzung und Nutzung geeigneter Dienste, z. B. aus der Cloud eines professionellen Anbieters, eröffnet für viele KMU neue Perspektiven im Umgang mit Daten. Auch die Bandbreiten sind häufig aufgrund der Möglichkeiten der Datenvorverarbeitung in wertschöpfungsnahen IT-Systemen zunächst kein limitierender Faktor in der Umsetzung von Industri
Insbesondere von der Politik werden allerdings auch technische Möglichkeiten häufig überschätzt. Hier glauben viele, der Stand der Technik sei ausreichend hoch, alle notwendigen Technologien seien schon verfügbar und man müsse sie nur entsprechend einsetzen.
Wenn wir nicht schnell agieren, werden wir von denen überholt, die sich nicht vorwiegend mit den Risiken, z. B. der Datensicherheit beschäftigen, sondern mit den Potenzialen, z. B. durch neue Geschäftsmodelle.
Der Standpunkt, gemeinsam verfasst von Produktionswissenschaftlern, die sich in der WGP vereinigt haben, soll Klarheit schaffen über die tatsächlichen Chancen und Risiken von Industrie 4.0. »Eine realistische Kommunikation des Kerns von Industrie 4.0, also des Nutzens der Technologien, des Potenzials, der Anwendungsgebiete und des Forschungsbedarfs aus Sicht der Produktionstechnik ist vor allem deswegen dringend notwendig, weil damit Fehlsteuerungen vermieden, das Thema Industrie 4.0 geerdet und den produktionstechnischen Unternehmen kompetent Orientierung gegeben wird«, so Bauernhansl.
Der WGP-Standpunkt wurde von Prof. Thomas Bauernhansl aus Stuttgart, Prof. Jörg Krüger aus Berlin, Prof. Gunther Reinhart aus München sowie Prof. Günther Schuh aus Aachen gemeinsam verfasst und mit den WGP-Kolleginnen und -Kollegen abgestimmt. Damit kann er als das Grundsatzpapier der deutschen Produktionswissenschaft zum Thema Industrie 4.0 gelten. Es gibt konsolidierte, von Spitzen-Fachleuten intensiv diskutierte konkrete Handlungsempfehlungen für die Wirtschaft, die Politik und die Wissenschaft, die ernst genommen werden sollten.